Der Handel braucht keine Innenstadt

Geschäfte, Gastronomie oder unsere Kinos locken uns in die Innenstadt. Nur, es sind eben unsere Geschäfte und Restaurants sowie Kinos, die in den letzten Jahren dank der Digitalisierung Konkurrenz erhalten haben. Unser Konsumverhalten hat sich radikal geändert.

Denn seitdem wir Kleidung online kaufen und uns Lunch ins Büro liefern lassen oder Filme auf dem Handy in der U-Bahn streamen, haben wir immer weniger Anreize in die Innenstadt zu gehen. Auf meiner Rundreise durch kanadische Großstädte fiel mir besonders auf, dass die wirklich aufregenden Geschäfte nicht mehr in den Innenstädten zu finden sind, sondern im Gürtel oder in der Zwischenstadt.

Die Innenstädte brauchen die Läden, aber die Läden brauchen die Innenstädte nicht mehr.

Es kommen also immer weniger konsumfreudige Menschen in die Innenstädte. Und weil immer weniger Konsumenten kommen, werden sich Händler die teuren Innenstadtlagen nicht mehr leisten können. In Montréal, Toronto, Calgary und auch in Vancouver fand ich ganze Straßenzüge in den Innenstädten, die wie leergefegt waren. Boutiquen, Gastronomie - alles geschlossen, umgezogen oder verwahrlost. 60% oder mehr Leerstand in einstigen Shoppingmeilen. Und auch hier in Deutschland sind hier und da erste Bewegungen in diese Richtung zu beobachten.

Leere Straßen in den Innenstädten ...

Viele der verbleibenden Geschäfte können aktuell nur eine reduzierte Auswahl an Waren anbieten, welche natürlich kaum attraktiv für Konsumenten ist. Die Folge: noch weniger Besucher. Diese Abwärtsspirale aus Frequenzverlust und fehlenden Angebot ist nicht aufzuhalten. 

Ein Stadtzentrum lebt von einem verdichteten Shopping-, Gastronomie- und Unterhaltungsangebot. Doch das innerstädtische Angebot auf engstem Raum ist bereits heute so löchrig, dass wir kaum noch Freude in der Innenstadt finden. Es macht einfach keinen Spaß mehr ein Geschäft nach dem anderen anzusteuern. Die Abstände an Momenten, in denen wir Freude beim Flanieren empfinden, sind einfach zu groß geworden. 

Insofern ist die verbliebene Frequenz in den Innenstädten nicht nur quantitativ geringer als früher, sie bringt auch eine andere Qualität mit sich. In unseren Gesprächen mit unseren Kunden beobachten wir, dass wir zwar passable Frequenzen haben, aber das Konsumverhalten im urbanen Raum quasi im Keller ist. 

“Kunden” kommen, um sich beraten zu lassen, Produkte zu fühlen und sich von der Qualität zu überzeugen. Canada Goose ist ein fantastisches Beispiel, wie man mit den Veränderungen im Konsumverhalten umgeht. Ich habe hier eine hochpreisige Winterjacke in einem Eisraum testen können, um mich davon zu überzeugen, ob sie auch wirklich hält, was sie verspricht. Ich war sofort überzeugt. Gekauft habe ich die Jacke dann aber nicht vor Ort. Eine Bestellung lief über das IPad dann auf dem Sofa im Airbnb in Toronto - die Lieferung erfolgt in Deutschland. Der Store hat mir nach dem Test einfach einen Produktlink aufs eigene Gerät geschickt. Für mich ein großartiges Einkaufserlebnis. Ich hatte viel Freude mit den Mitarbeitern vor Ort. Man hat mich als Kunden komplett verstanden und meine Bedürfnisse wurden ungefragt pro-aktiv befriedigt. 

Ice Room von Canada Goose

Wir flanieren nicht mehr durch viele Geschäfte - konsumfreudige Personen fahren ganz gezielt die Geschäfte an, die sie interessieren. Nach dem Besuch steigen sie direkt wieder ins Auto oder in die U-Bahn. Und ja, auch ich habe das Geschäft in einer Mall fest angesteuert und im Anschluss kein weiteres Geschäft besucht.   

Der Handel braucht keine Innenstadt

“Destination Stores” - das ist aus den Läden in den 1A-Lagen geworden. Also Geschäfte, in die man eben nicht mal eben so reingeht, weil man schon vor Ort ist, sondern Geschäfte, zu denen wir gezielt fahren - oder eben auch nicht. Wenn wir diese Geschäfte gezielt anfahren, dann müssen diese Geschäfte auch nicht in der Innenstadt bzw. in der Fußgängerzone sein. Lage, Lage und Lage - das gilt nur noch für touristische Hotspots, wo ausreichend Fremde orientierungslos durch die Straßen laufen. An allen anderen Orten ist der Erfolg eines stationären Händlers nicht mehr von der Lage abhängig. Vielmehr zählt, ob sein Angebot kompetent und einzigartig genug ist, um einen Besuch zu rechtfertigen.      

Dieses aufregende Angebot lässt sich in Off-Lagen oft besser realisieren. Die Quadratmetermiete ist günstiger und es gibt bessere Möglichkeiten, eine breitere Auswahl auf mehr Platz zu lagern, damit diese großzügig präsentiert werden kann. Die wirklich coolen Geschäfte gab es im Viertel Kensington Market in Toronto und eben nicht in der Eaten Mall. Genau wie ein Baumarkt, muss ein tolles Geschäft nicht in der Innenstadt sein. Die Innenstädte brauchen die Läden, aber die Läden brauchen die Innenstädte nicht mehr. 

Buntes Treiben im Kensington Market

Das ausgedünnte Angebot in den Stadtzentren wird nicht von Insolvenzen geprägt sein, sondern von der Abwanderung von Geschäften. Das pulsierende Leben, das früher auch in den Nebenstraßen der kompletten Innenstadt tobte, konzentriert sich jetzt auf die bekanntesten Einkaufsmeilen: die Kö in Düsseldorf, die Mö in Hamburg, den Ku'damm in Berlin, etc. Unsere kleinen und mittleren Städte klagen bereits heute über den starken Verlust ihrer Vitalität. Lebendige Ortskerne mutieren zur Geisterstadt. Diese Städte sind zu Donuts geworden und das hat Nebenwirkungen. Kommerzielle Zentren waren in der gesamten Geschichte der Menschheit immer auch Begegnungsstätte ihrer Bürger. Jetzt haben die Menschen ihren wichtigsten dritten Ort verloren. Der Ort, an dem sie sich - neben dem Zuhause (erster Ort) und dem Arbeitsplatz (zweiter Ort) - aufhalten und an dem sie sich treffen. Wir alle vermissen diesen Ort, der früher die Innenstadt war. Wir vermissen die Treffen und das Straßenleben. Das gemeinsame Konsumieren als soziales Ereignis. 

Jetzt bestellen wir lieber Bekleidung nach Hause, essen auf dem Sofa und schauen Netflix. Bequem, aber einsam. Und genau das wird irgendwann zu einem Problem. 

“Wenn Menschen sich nicht mehr begegnen, schwindet der Zusammenhalt. Einheimische bleiben unter sich, Zugezogene fremd, Alte und Junge lernen sich nicht mehr kennen, über Politik spricht man daheim mit Freunden, die sowieso dieselbe Meinung haben. Das Verständnis für andere geht verloren, wenn man die Welt nur noch aus dem eigenen Blickwinkel betrachtet.” (Sophie Burfeind)

Ich hatte in Kanada das Gefühl, ein wenig in die Zukunft blicken zu können. Irgendwie ist dieser beschriebene Prozess dort viel weiter fortgeschritten als in Deutschland und irgendwie sehe ich aber auch die Chance, dass wir den verlorenen dritten Ort neu erfinden können.

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